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Statistismus: Diskriminierung auf Basis von Statistiken
7 min 2025-05-05

Statistismus: Vorverurteilung aufgrund der Datenlage

Der Statistismus ist eine vorgeschlagene Wortneuschöpfung, um ein in der Soziologie und Ökonomie bekanntes Phänomen klarer zu benennen. Er lehnt sich sprachlich an etablierte Begriffe wie Sexismus oder Rassismus an, betont jedoch explizit die Rolle statistischer Zuschreibungen im Prozess der Diskriminierung. Das zugrunde liegende Konzept der statistischen Diskriminierung ist in wissenschaftlichen Definitionen längst bekannt. [Q1]

Definition (Der Vorschlag)

Statistismus bezeichnet die diskriminierende oder verallgemeinernde Behandlung von Individuen aufgrund statistischer Merkmale oder gruppenspezifischer Durchschnittswerte.

Im Gegensatz zu anderen herabwürdigenden Vorurteilen basiert der Statistismus nicht notwendigerweise auf bewusster Abwertung, sondern häufig auf einer „rationalisierten“ Basis gruppenbezogener Wahrscheinlichkeiten. Besonders häufig tritt Statistismus dort auf, wo Menschen schnell entscheiden müssen oder aus Effizienzgründen nicht genauer hinschauen, etwa bei Banken, Behörden, auf dem Wohnungsmarkt oder im politischen Diskurs.

Wortbildung

Statistik + -ismus

Der Wortbestandteil „-ismus“ verweist wie bei verwandten Begriffen auf eine systematische oder ideologisch verfestigte Form einer ungerechten Ungleichbehandlung.

Beispielhafte Verwendung

Die polizeiliche Kontrolle erfolgte nicht aufgrund individueller Auffälligkeiten, sondern aus reinem Statistismus: Menschen mit ausländischem Aussehen sind in der Tatverdächtigenstatistik überrepräsentiert, rein faktisch.

Die Bank verweigerte der Frau den Kredit, obwohl sie ein stabiles Einkommen hatte. Ihr Mann aus derselben Branche mit identischem Gehalt bekam den Kredit genehmigt. Ausschlaggebend war die Herkunft aus einem Stadtteil mit hoher Zahlungsausfallquote bei Frauen, ein Fall von Statistismus.

In den genannten Beispielen ließe sich schnell von Rassismus, also einer Vorverurteilung aufgrund der Herabstufung eines ethnischen Erscheinungsbilds, oder von Sexismus, also der Vorverurteilung aufgrund des Geschlechts, sprechen. Das ist jedoch nicht der Fall, da sich auf falsifizierbare, also überprüfbare Zahlen gestützt wird, die Entscheidungen begründen. Es findet keine ideologisch begründete rassistische oder sexistische Vorverurteilung statt, sondern eine auf repräsentativen Statistiken basierende.

Die Vorverurteilung bleibt ungerecht, da sie aufgrund nicht beeinflussbarer Merkmale der jeweiligen Person geschieht. Der polizeilichen Kontrolle geht kein beeinflussbares, auffälliges Verhalten voraus, sondern ein Aussehen, das bestimmten ethnischen Gruppen zugeordnet wird. Bei der Frau gibt es kein beeinflussbares zu niedriges Gehalt, entscheidender Faktor ist das unbeeinflussbare Geschlecht.

Gleichzeitig ergibt sich für die Polizei bei Routinekontrollen eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit auf relevante Funde bei unauffällig gebliebenen arabisch Aussehenden als bei ebenfalls unauffällig gebliebenen deutsch Aussehenden. Es stellen sich die Fragen: Warum sollte die Polizei nur zum „Ausgleich“ auch Personen mit geringerer Wahrscheinlichkeit kontrollieren, also gemäß der allgemeinen Verteilung in der Gesellschaft (14,4 % Anteil an der Bevölkerung gegen 34,4 % Anteil in der Kriminalstatistik bei Nichtdeutschen [Q])? Sollte die ausländisch aussehende Person trotz fehlenden Fehlverhaltens etwa einen anderen Kleidungsstil wählen, um weniger vorverurteilt zu werden? Beides erscheint falsch.

Im Beispiel der Frau stellen sich ähnliche Fragen: Sollte die Bank trotz der erhöhten statistischen Wahrscheinlichkeit auf ein unrentables Geschäft das Risiko eingehen? Müsste die Frau trotz ihres eigentlich ausreichenden Gehalts in ein anderes Viertel ziehen, nur weil ihr unbekannte Frauen in ihrem aktuellen Wohnort statistisch auffallen? Auch hier erscheint beides falsch.

Die naheliegende, aber gesellschaftlich zeitaufwendigere Lösung ist eine radikale Individualbetrachtung in derartigen Fällen.

Weitere Unterteilungen

Anekdotischer Statistismus

Grundiert auf der gleichen Definition, bezieht sich jedoch nicht auf repräsentativ erhobene Statistiken, sondern auf Gewichtungen aus eigenen Erlebnissen. Ein diskriminierendes Vorurteil stützt sich dabei nicht auf sexistische oder rassistische Ideologien oder vorgelebte Denkmuster, sondern auf Häufungen von Personengruppen bei persönlichen Erlebnissen im Alltag.

Weitere Vorkommen

In Zeiten automatisierter Entscheidungsfindung durch Algorithmen gewinnt der Begriff an Aktualität. Viele KI-Systeme reproduzieren oder verstärken bestehende Vorurteile, indem sie auf historische Daten zurückgreifen. Ein struktureller Statistismus, der weitgehend unbemerkt bleibt.

Beispiel: TikTok-Verifizierung

Abgrenzung zu verwandten Begriffen

  • Rassismus / Sexismus: Bei diesen Formen sind biologische oder soziale Merkmale ausschlaggebend, oft begleitet von normativen Abwertungen. Statistismus kann auch diese Formen beinhalten, betont jedoch die rechnerische „Rationalität“ als Motiv.
  • Diskriminierung: Allgemeiner Begriff für die ungleiche Behandlung, oft ohne Hinweis auf deren Ursache.
  • Statistische Diskriminierung: Fachbegriff, der beschreibt, wie Akteure aufgrund fehlender individueller Information auf Gruppenmittelwerte zurückgreifen. Statistismus zielt auf die gesellschaftlich wahrnehmbare Form und mögliche Ideologisierung dieses Mechanismus.

Gefahren des Statistismus

Der Statistismus wird häufig als „objektiv“ oder „neutral“ dargestellt, da er sich auf statistische Wahrscheinlichkeiten stützt. Kritikerinnen und Kritiker betonen jedoch:

  • Dass Wahrscheinlichkeiten keine Aussagen über Einzelfälle erlauben.
  • Dass viele Statistiken sozial konstruiert und durch Vorannahmen verzerrt sind (z. B. durch Erfassungspraktiken).
  • Dass durch die Anwendung statistischer Diskriminierung bestehende Ungleichheiten verstärkt oder zementiert werden können (z. B. durch Feedback-Loops in Kreditvergabe-Algorithmen oder Predictive Policing).

Der Ursprung

Der Begriff der statistischen Diskriminierung lässt sich, wie im einleitenden Paragraphen angeführt, bereits in der Wissenschaft finden. Die Wortneuschöpfung Statistismus findet sich erstmals 2011 in einem Blogbeitrag. [Q] Hier wird dieser als ein „bewusstes oder unbewusstes Täuschen mit Statistik“ definiert. Im Dezember 2022 führte Jorit Vásconez Gerlach seine Definition im Blog Gedanken an. Hier wird auf eine Legitimierung von Ungleichbehandlung Bezug genommen, wenn diese eindeutig statistisch begründet ist.

Mitwirkende
Clarify Wiki Author: Jorit Vásconez Gerlach Jorit Vásconez Gerlach
Selbst Mitwirken
Themen
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Diese Seite wurde zuletzt am 05. Mai 2025 um 21:08 Uhr bearbeitet.