Rechtsextreme: Vom Einstieg bis zum Ausstieg
Dieser Artikel untersucht anhand quantitativer Erhebungen den Weg vom Einstieg bis hin zum Ausstieg von Menschen aus dem Rechtsextremismus. Welche Beweggründe liegen jeweils vor? Wie verläuft ein Ausstiegsprozess?
Folgende Auswertung basiert auf einer Untersuchung (Quelle unten) der rechtsextremen Szene in Deutschland. Herausgeber ist das Journal EXIT-Deutschland, dessen Organisation Stand 2022 selbst über 800 Personen aus der rechtsextremen Szene holte – bei einer Rückfallquote von ungefähr 3 %. [Q1]
Während die gesamte Studie rund 60 Seiten umfasst, wird hier versucht, die spannendsten Erkenntnisse auf ein Minimum herunterzubrechen. Es finden sich jeweils die Seitenzahlen angegeben, um an den jeweiligen Stellen selbst nachschlagen zu können.
Der Einstieg
Gerade für Personen, die aus ihrem eigenen Umfeld nie direkt mit Rechtsextremisten interagiert haben oder sich selbst und in ihrem Umfeld stark für politische Ziele im demokratischen Spektrum einsetzen, ist der Extremisierungsprozess meist nicht greifbar oder nachvollziehbar.
Folgender Abschnitt schlüsselt die vier wichtigsten Erkenntnisse nicht nur dieser, sondern auch weiterer Untersuchungen auf: [Q2]
Einstieg durch Ideale statt Ideologie
Wer meint, dass in rechtsextremen Gruppierungen nur Menschen vertreten sind, die eine klare Ideologie vertreten, der täuscht sich. Denn in den Reihen der Personen, welche bereits klare politische Ziele, ein Weltbild und Feindbilder haben, befindet sich auch ein Teil der Einsteiger.
Es beginnt vielmehr mit einem grundlegenden Bedürfnis, sich ausdrücken zu wollen, seine Ansichten teilen zu können und etwas am Status quo zu verändern. Im Fokus stehen dabei einzelne Puzzleteile von idealisierten Vorstellungen: Nationalstolz, Familie, Gerechtigkeit, Freiheit, Gemeinschaft, Kameradschaft oder soziale Veränderung. Auffällig ist dabei, dass die von den Aussteigern genannten Begriffe gar nicht zwingend einem politischen Lager zuzuordnen sind oder teilweise nicht einmal politisiert sind. (S. 2, 19)
Häufig entspringen diese konservativen Ideale einer Art "Erstkontakt" über die Eltern, Großeltern, den Freundeskreis oder das allgemeine soziale Umfeld (z. B. Sportvereine etc.). Teilweise auch in Verbindung mit Alltagsrassismus oder Mythen zum Dritten Reich (z. B. "der Mythos von der sauberen Wehrmacht"). (S. 17) Ähnliche soziale Einflüsse treten auch bei einschlägigen Social-Media-Feeds oder Erzählungen von Influencern auf, bei denen bereits eine Form der parasozialen Bindung existiert.
Diese entstandenen Bedürfnisse ebnen jedoch nicht gleich den Weg zur rechtsextremen Weltanschauung, sondern vielmehr die daraus entstehenden Konsequenzen. So führen Äußerungen beispielsweise zu Konflikten und Problemen, etwa in der Schule oder im Beruf. (S. 17) Das zuvor beschriebene Bedürfnis nach Ausdruck von Moralvorstellungen oder Idealen in Kombination mit der teilweise erlebten Ausgrenzung führt zu neuen Freundschaften und Kontakten, welche empfänglich sind, sich diese Ideale anzuhören. Es handelt sich dabei am Anfang meist um zufällige Kontakte über Treffen mit Freunden, statt um gezielte Suchen. (S. 34) Zu einem bestimmten Zeitpunkt gerät man dann an eine Person, die einen zu einem ersten politischen Treffen mitnimmt. Hier öffnet sich schließlich eine neue Welt:
… es war also wirklich interessant, auf einmal ganz viele Leute um mich rum zu haben, vor denen ich mich nicht verstecken brauchte, vor denen ich meine Ansichten nicht verstecken brauchte … — S. 19
Zu diesem Zeitpunkt, aber auch bei darauffolgenden Treffen, ist zunächst noch keine Ideologie in Form einer Weltanschauung bei den jeweiligen Personen enthalten; diese bildet sich – wie gleich aufgeführt – erst durch Strukturen und Persönlichkeiten aus diesen politischen Gruppen, Organisationen und Treffen.
Radikalisierung durch klare Rollen
Mit einem neuen Zugehörigkeitsgefühl, das sich aus politischen Gruppen dieser Art ergibt, tendieren die Personen zu einer fortlaufenden Integration in deren Umfeld. In dieser Phase formen sich bestehende Ideale durch die vorherrschenden Weltanschauungen in den Organisationen in einem fließenden Übergang zunehmend zu einer Ideologie und einem Feindbild. (S. 34)
Zusätzlich sind rechtsextreme Organisationen außergewöhnlich stark hierarchisch gegliedert. Der Status- und Machtgewinn führt dazu, dass Personen Aufgaben, Rollen und Pflichten übernehmen, um diesen Statusgewinn (Affirmation) und die Machtsteigerung (mehr Verantwortung, Funktionen etc.) zu erhalten. Was Außenstehenden meist verborgen bleibt: Politischer Erfolg (z. B. Wahlergebnisse, Erfolge bei der Rekrutierung und Öffentlichkeitsarbeit, positive Medienpräsenz, Etablierung neuer Strukturen) wird intern oft höher bewertet als der „Kampf gegen den politischen Feind“. (S. 34)
Gruppenbindung ersetzt Familienbindung
Etwas, das heraussticht, ist der starke Drang nach Gemeinschaft – teilweise, weil diese in der eigenen Familie nicht besteht. (S. 18) Es wird immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass es den jungen Leuten genau daran fehlt:
Ich glaube, der Oberbegriff heißt "Gemeinschaft". Ich glaube, in unserer heutigen Gesellschaft fehlt es daran. Jeder ist irgendwie auf sich selbst gestellt. Ich denke, das ist das größte Problem für junge Leute. [...] — S. 18
Ich hab mich dann auch so gesehen. Ich war dann quasi wie so’n kleiner Hundewelpe, der dann beim Kameradschaftsführer kratzt. So: Sieh mich, nimm mich wahr, und ich will was werden. — S. 23
Diese Suche kann schlussendlich auch zur Abkapselung führen – zum einen von anderen sozialen Kontakten, aber auch von der Familie, gerade wenn diese die neu entwickelte politische Haltung nicht teilt (sie ablehnt oder kein Interesse zeigt). Die rechtsextreme Gruppe wird zur neuen Familie:
Die Eltern müssen wissen, dass die Ideologie in der Szene den Vorrang vor den sozialen Bindungen hat. — S. 28
Man kommt aus einer sehr sektoiden Szene, in der man sozial komplett vereinnahmt ist. — S. 23
Es ergibt sich daraus ein Teufelskreis: Durch die Extremisierung und die daraus folgenden sozialen Brüche entsteht ein zunehmend unkritisches Umfeld. Zum einen, weil sich Personen von kritischen Stimmen trennen (müssen), zum anderen aber auch, weil sich Kontaktpersonen von der sich extremisierenden Person abwenden. Mit fortschreitender Extremisierung wird es zudem immer schwieriger bis unmöglich, überhaupt noch Kontakte zu „normalen Personen“ aufbauen zu können.
Rechts ist dabei eher Zufall
Die grundlegende Aneignung der Ideologie wird als ein ähnlicher Prozess gesehen wie bei anderen sozialen Gruppen und zum Beispiel mit einem Sportverein verglichen. Im Fokus steht die Gemeinschaft, und die Tätigkeiten dienen eher als Mittel zum Zweck:
Radikalisierte Individuen müssen nicht jeden philosophischen Aspekt der Ideologie verstehen und kennen, aber sie entwickeln ein allgemeines Gespür für korrektes und falsches Verhalten, während sie Teil der Szene sind und einer bestimmten Ideologie anhängen. (S. 12)
Wären das damals in den Chat Greenpeace gewesen, wär ich heute wahrscheinlich bei Greenpeace. Es wäre damals fürchterlich egal gewesen, ob rechts, links, oben, unten. Das wär mir völlig wurscht gewesen... — S. 20
Der relevante Unterschied liegt hier in der Verschmelzung mit einer bestimmten Art von Ideologie, die von Natur aus aggressiv und gewalttätig ist. (S. 12)
Der Ausstieg
Im folgenden Abschnitt geht es nun um die Auslöser, die zu einem Ausstieg bewegen. Findet ein solcher auch nur teilweise statt, ist die Reaktanz aus den rechtsextremen Kollektiven meist stark. Dies dient als weiterer Push-Faktor und als Neufindungs- bzw. Reflektionsphase.
Zusätzlich betrachtet der Abschnitt auch auftretende Problematiken bei der Wiedereingliederung in die "normale Gesellschaft".
Soziale Brüche als Auslöser
Wie auch beim Einstieg und der Radikalisierung bis hin zur Extremisierung spielt der soziale Aspekt auch hier eine entscheidende Rolle. Während die Unzufriedenheit mit dem vorherigen Umfeld den Einstiegsgrund darstellte, sind Unstimmigkeiten auch Auslöser für Ausstiege.
Die Motivation liegt dabei entweder in einer Enttäuschung über den tatsächlichen politischen Fortschritt und die Veränderung oder in einer klaren Konfrontation zwischen den Werten der Szene und der Lebensrealität der Person (z. B. Coronaleugnung, während ein Familienmitglied stark erkrankt, Ausländer-/Religionsfeindlichkeit, obwohl man selbst Teil der betroffenen Personengruppe ist, Ablehnung von Abtreibungen oder Erlebnisse, die konträr zum propagierten und erwarteten Frauenbild stehen, bei Mädchen/Frauen, ...). In beiden Fällen führt das zu einer Trennung oder Überdenkung der Gruppe, der man sich zuvor recht unkritisch verschrieben hatte:
[...] und nach hab ich gemerkt, dass das was ich tatsächlich möchte und das was ich tatsächlich an Veränderung in Gesellschaft in der Welt haben möchte, dass das nicht mit dem übereinstimmt was die rechte Szene für Veränderungen der Gesellschaft haben möchte. Das das einfach überhaupt nicht miteinander übereinstimmt.“ — S. 29
Wie folgende Person zum Ausdruck bringt, war es gar nicht die eigentliche Motivation, sich von der Weltanschauung zu lösen, sondern aufkommende Unstimmigkeiten mit der Gruppe:
Ich war unzufrieden mit dem Umfeld. Das war mir zu spaßorientiert, zu wenig ideologisch. Der Lebenswandel stimmte nicht mit der Theorie überein. Ich bin aus der JN ausgetreten, aber zunächst nicht mit dem Vorsatz, mich von der Weltanschauung zu lösen. Doch irgendwann kam ich ins Grübeln, mir wurden Widersprüche bewusst. Teilweise kamen die ideologischen Fragmente ja aus meiner Kindheit, es ist schwer, sich davon zu befreien. Als der grundlegende Glaube nicht mehr da war, fiel alles innerhalb von Wochen zusammen. — S. 30
Der Ausstieg beginnt also oft mit internen Kämpfen und der doppelten moralischen Standardität der Szene. Unbewusst nehmen Personen bereits Monate vor einer Distanzierung wahr, dass die ursprünglichen moralischen Bedürfnisse nicht mit der gelebten Praxis übereinstimmen. Neben den oben erwähnten Diskrepanzen erleben sie auch Interessen nach Macht, Gier, Bereicherung und ähnliches, die die oberen Ebenen vieler Gruppen dominieren. Schritt für Schritt erkennen die Menschen eine „Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis“. Diese Unstimmigkeiten treten häufig über Monate hinweg gehäuft auf. Oft werden sie zunächst ausgeblendet, um weiterhin Teil der Gruppe sein zu können. Doch die Zweifel stauen sich auf und führen zu gruppeninternen Konflikten. Diese Konflikte, die zu kleineren Trennungen führen können, sorgen letztlich dafür, dass der gesamte Glaube kippt. Wie der Interviewte zum Ausdruck bringt, fällt in diesem Fall „alles innerhalb von Wochen zusammen“. (S. 29, 30)
Distanz zur Szene als weiter Push-Faktor
Da diese rechtsextremen Gruppierungen stark hierarchisch und teilweise kultartig strukturiert sind, kann das Lösen und Distanzieren einer Person von Einzelpersonen innerhalb der Gruppe einen Stein ins Rollen bringen und schnell zu einer Reaktanz aus einem Großteil der Gruppe führen, was den Ausstieg zusätzlich vorantreibt.
Also ich vergleiche das mit, mit ner Sekte, mit Wahn, ner Sekte. Man is da dann drinnen, man bekommt Zuspruch, man wird, es gibt Schulterklopfen, man steigert sich da immer mehr rein. Weil man ja immer mehr möchte, man möchte immer weiter hoch, man möchte immer mehr bewegen, man möchte immer mehr Anerkennung. — S. 26
Für mich ist der Rechtsextremismus der große Aberglaube des 20. oder 21. Jahrhunderts. Das ist wie der Ausstieg aus einer Psychosekte. — S. 27
Neufindung in der Politisierung
Ab dem Bruch beginnt eine Neufindung und Reflektion der Zeit innerhalb der Szene. Der tatsächliche Prozess der Reintegration in eine demokratische Gesellschaft (sofern die extremistischen Ansichten abgelegt wurden) ist langwierig. Teilweise bestehen Freundschaften in die Szene weiter, auch bei der Teilnahme an Aussteigerprogrammen. (S. 7)
Nach einem Bruch, der den Austritt hervorbringt, lassen sich unterschiedliche Verhaltensmuster erkennen. Meistens wird nach neuen Wegen gesucht, sich politisch auszudrücken, und alte Kontakte werden wieder aufgenommen. Während wohl die meisten versuchen, mit der ehemaligen Szene vollständig abzuschließen, beginnen manche nach oder während der Reflektion, sich aktiv gegen die zuvor vertretene Ideologie einzusetzen – als eine Art Wiedergutmachung oder aufgrund der Realisation der tatsächlich gesellschaftlich schädlichen Auswirkungen solcher Gruppierungen. [Q3] [Q4] [Q5]
Literatur
Koehler, D. (2014). Right-wing extremist radicalization processes: The formers’ perspective. JEX – Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, 1, 307–377. Abgerufen am 12. März 2025 von https://www.researchgate.net/publication/261471499_Right-Wing_Extremist_Radicalization_Processes_The_Formers'_Perspective