Wie verlässlich sind deutsche Wahlumfragen wirklich?
Wahlumfragen spielen in der politischen Landschaft eine große Rolle. Wer vor anstehenden Wahlen Nachrichten liest, kommt gar nicht darum herum. Dieser Artikel untersucht nicht nur, welche Auswirkungen Wahlumfragen auf das schlussendliche Ergebnis haben, sondern auch, wer in Deutschland hinter diesen steckt.
Die Fragen, die sich stellen: Wie korrekt sind die Wahlumfragen in Deutschland? Welche Wahlumfrage-Institute gibt es in Deutschland? Welche davon haben eine gewisse Parteinähe?
Der 3-Wahlen-Durchschnitt
Die folgende Tabelle zeigt die durchschnittliche Prozentpunkte-Abweichung der Bundestagswahl-Prognosen vom tatsächlichen Endergebnis verschiedener Institute. Es wurden ausschließlich Institute berücksichtigt, die zu allen drei letzten Wahlen Umfragen veröffentlicht haben. Daraus wurde ein neuer Drei-Wahlen-Durchschnitt errechnet, der mögliche einmalige Abweichungen ausgleicht.
Durch diesen Drei-Wahlen-Durchschnitt lässt sich sagen, dass INSA (häufige Auftraggeber: Bild, Cicero) und FG Wahlen (Hauptauftraggeber: ZDF) in den letzten drei Wahlen im Schnitt die genauesten Wahlergebnisse lieferten:
Institut | 3-Wahlen-Durchschnitt | 2025 [Q1] | 2021 [Q2] | 2017 [Q3] |
---|---|---|---|---|
INSA | 0,9167 | 0,71 | 0,97 | 1,07 |
FG Wahlen | 0,9667 | 0,71 | 0,86 | 1,33 |
Allensbach | 1,1267 | 1,23 | 0,63 | 1,52 |
Forsa | 1,2233 | 1 | 1,07 | 1,6 |
Civey | 1,2267 | 1,19 | 0,82 | 1,67 |
Infratest dimap | 1,2833 | 1,73 | 0,79 | 1,33 |
YouGov | 1,3433 | 0,6 | 1,33 | 2,1 |
Daten: dawum.de
Hinweis zur Interpretation
Diese Tabelle gibt nur einen groben Eindruck davon, wie genau die Institute bei Bundestagswahlen waren. Sie erlaubt aber keine allgemeine Bewertung ihrer Qualität.
Ein Durchschnittswert kann irreführend sein: Wenn Institut X bei allen Parteien gleichmäßig um etwa 1,2 % danebenliegt, wirkt das stabil. Wenn Institut Y dagegen bei manchen Parteien sehr genau liegt (z. B. nur 0,2 % Abweichung) und bei anderen stark daneben (z. B. 2,1 %), ergibt sich vielleicht ein ähnlicher Durchschnitt – aber mit größeren Schwankungen zwischen den Parteien. Das heißt: Auch wenn Institut Y im Mittelwert besser abschneidet, können einzelne Prognosen deutlich ungenauer gewesen sein.
Außerdem: Die Tabelle bezieht sich nur auf Bundestagswahlen. Andere Umfragen, wie etwa zu Landtagswahlen oder allgemeinen Meinungen, können ganz andere Abweichungen zeigen. Diese Übersicht sagt also nichts darüber aus, wie gut ein Institut generell arbeitet – sie zeigt nur, wie genau es bei Bundestagswahlen im Schnitt war.
Abweichungen nach Partei
Relevant ist dabei auch eine Prüfung der Abweichungen zwischen den einzelnen Parteien. Der allgemeine Durchschnitt beachtet nicht, ob eine Partei überdurchschnittlich gut bewertet wurde. Eine schlechtere Bewertung anderer Parteien könnte diesen Durchschnitt sogar ausgleichen. Die folgende Grafik zeigt, ob eine Partei zu hoch (Säule nach unten) oder zu niedrig (Säule nach oben) bewertet wurde.
Bildschirmfoto: dawum.de (25.04.2025)
Auffallend ist hier, dass die Forschungsgruppe Wahlen, die im Gesamtranking Platz 2 belegt, zur Bundestagswahl 2025 die Grünen deutlich zu hoch einschätzte, während alle anderen Parteien leicht zu niedrig bewertet wurden. Dies erzeugt einen Ausgleich, durch den der durchschnittliche Fehler dennoch gering erscheint. Wie es zu dieser Überbewertung kam, konnte bei Recherchen nicht weiter geklärt werden. Es zeigt sich, dass eine ähnliche Überbewertung auch bei anderen Instituten auftrat. Eine vertiefte Untersuchung, auch im Hinblick auf vergangene Bundestagswahlen, ist für die Gesamtbewertung relevant. Analysen können jederzeit über die Mitwirkungsfunktionen eingereicht werden.
Welche Auswirkung haben Wahlumfragen auf die Wahl?
In der Vergangenheit wurden in Deutschland verschiedene Untersuchungen angestellt, um dieser Frage nachzugehen. Ganz grundsätzlich lassen sich belegte psychologische Effekte feststellen, die bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt sind: [Q4]
- Bandwagon-Effekt („Mitläufereffekt“): Bewegt Menschen dazu, die Partei zu wählen, die in Umfragen vorne liegt, um zu „gewinnen“ oder nicht von Mehrheiten abweichen zu wollen.
- Underdog-Effekt: Im Gegensatz dazu gibt es auch das Phänomen, dass Wählende eher kleine oder zurückliegende Parteien unterstützen – aus einem Gerechtigkeitsempfinden oder Protest heraus.
- Strategisches Wählen (auch „taktisches Wählen“): Umfragen führen auch dazu, dass Menschen nicht ihre tatsächliche Wunschpartei wählen, sondern eine „aussichtsreiche“ Alternative – etwa um einen Wahlsieg einer unerwünschten Partei zu verhindern („kleineres Übel“). Mit dem Aufstieg der AfD wurde diese Strategie besonders beliebt und sogar mit speziellen Websites zur Kalkulation propagiert.
- Unbekanntheit: Wahlumfragen fragen und bilden nahezu immer nur bereits führende Parteien ab. Unter „Sonstige“ aufgeführte Parteien erlangen weniger Sichtbarkeit – und so auch weniger Stimmen.
Ähnliche Auswirkungen lassen sich auch auf die politischen Leitthemen feststellen: [Q5]
- Umfragen können dazu führen, dass Medien, Parteien und Wähler sich stärker mit bestimmten Themen oder vermeintlich „aufsteigenden“ Parteien beschäftigen.
- Der Eindruck von Stärke sogenannter „Randparteien“ in Umfragen kann dazu führen, dass „Protestwähler“ mobilisiert oder gemäßigte Wähler aufgeschreckt werden – und Demonstrationen, Aktionsbündnisse und Co. planen.
- Auch Parteien selbst passen ihr Verhalten an Umfragewerte an: etwa durch das Kopieren der im Trend liegenden Rhetorik oder gezielte Aussagen mit Koalitionsabsicht.
Deutschlands Institute
Werden Wahlumfragen gezeigt, wird meist auch das beauftragte Institut eingeblendet. Meist hat jedes Medium bei der Auswahl eigene Präferenzen. Der Grund dafür ist, dass große Medien selbst Auftraggeber für Umfragen sind, um daraus Artikel abzuleiten.
Doch welche Institute gibt es überhaupt? Wer sind deren Auftraggeber? Hatten sie schonmal Skandale? Folgender Abschnitt untersucht kurz, aber prägnant die 7 relevantesten Institute.
INSA
INSA (eigentlich INSA-Consulere) wurde 2009 von Hermann Binkert gegründet. Binkert war seit dem 16. Lebensjahr Mitglied der CDU und arbeitete mit 27 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und auch für die CDU Bundestagsabgeordnete Claudia Nolte. Im Juni wurde Binkert Staatssekretär in der Thüringer Staatskanzlei, und übernahm so eines der höchsten Ämter im Bundesland. Nur 22 Tage nach Beendigung des Amtes gründete er am 26. November 2009 INSA mit dem Ziel, Wettbewerb in Wahlumfragen zu fördern. Er sagte dazu: „Niemand in der Branche hat auf Insa gewartet, aber auch in der Meinungsforschung ist Wettbewerb sehr notwendig“. [Q6]
Das Image einer Überparteilichkeit, die von Meinungsforschungsinstituten erwartet wird geriet 2013 mit einer Spende Binkerts an die AfD ins Wanken. [Q7] Es erschien 2015 ein Spiegel-Artikel, dass ein Tochterunternehmen von INSA die AfD bei inhaltlichen Fragen beriet. [Q8] Binkert ist bis heute leitender Geschäftsführer. Ein besonders prominenter Auftragsgeber von INSA ist BILD mit der "Sonntagsfrage". [Q9]
FG Wahlen
Die Forschungsgruppe Wahlen (FGW) e.V. in Mannheim entstand 1974 durch eine Ausgründung aus dem ZDF-Wahlforschungsteam. Hauptaufgabe ist die wissenschaftliche Beratung und Hochrechnungen für ZDF-Wahlsendungen (Politbarometer). Dem Verein zufolge finanziert das ZDF die FGW vollständig. Die Datenerhebungen selbst führt eine eigens gegründete Telefonfeld GmbH durch. FG Wahlen gilt als parteipolitisch ungebunden und etabliertes Standardinstitut.
Die FGW stand bislang nicht im Fokus öffentlicher Kritik. Im Gegenteil genießt das Institut allgemein Vertrauen durch langjährige Methodik. Detailfragen wie Gewichtungsverfahren oder Panelzusammensetzung wurden wiederholt untersucht ohne bekanntgewordene Mängel.
Allensbach
Das IfD Allensbach wurde 1947 von Elisabeth Noelle-Neumann gegründet [Q10] und ist die älteste deutsche Meinungsforschungs-Agentur. Es hat seinen Sitz am Bodensee und ist bekannt für Langzeitstudien (z.B. AWA). Allensbach gilt als dem konservativen Spektrum zugehörig, so soll Noelle-Neumann eine engagierte Beraterin von Konrad Adenauer und Helmut Kohl gewesen sein. [Q11] Spiegel nannte das Institut deshalb bereits 2002 „CDU-nahe“. [Q12] Im Gegensatz zu anderen großen Instituten arbeitet Allensbach mit einem Quotenstichprobenverfahren (statt Zufallsauswahl) [Q13], was in der Branche immer wieder diskutiert wird.
Allensbach geriet in der Vergangenheit wegen einzelner Umfragen in die Kritik. So unterschätzte es etwa bei baden-württembergischen Landtagswahlen 1992 und 1996 den Stimmenanteil der rechtsextremen Republikaner deutlich. [Q14] Renate Köcher (Allensbach-Geschäftsführerin) begründete dies später mit Vorsicht bei der Trendbeurteilung. Heute werfen Konkurrenten Allensbach gelegentlich Verstaubtheit und methodische Altmodigkeit vor. [Q15] Insgesamt wird das Institut aber als renommiert eingestuft.
Forsa
Das Berliner Forsa-Institut wurde 1984 von Manfred Güllner gegründet. [Q16] Es führt Meinungsumfragen für Verlage und Sender durch (u. a. RTL/Stern). Forsa wurde in der Vergangenheit als „SPD-nah“ eingestuft [Q17], was Güllner mit einem Gerichtsbeschluss gegen entsprechende Unterstellungen bekämpfte. Nach eigenen Angaben setzt Forsa Telefon-Interviews und Online-Panels ein. Die Institute-Kollegen sehen Forsa jedenfalls im sozialdemokratischen Umfeld, zumal Güllner selbst lange in der Partei aktiv war.
Forsa ist bekannt für dramatische Umfrageaussagen, die große Medienöffentlichkeit erzeugen. Der Journalist Niggemeier bezeichnete Forsa als „Schock-Generator“, weil sie häufig starke Schwankungen meldet. [Q18] 2002 forderte Güllner in einem Spiegel-Interview sogar einen „TÜV für Meinungsforscher“ zur Steigerung der Glaubwürdigkeit. [Q19] Güllner selbst mahnt andererseits Vorsicht bei scheinbarer Präzision (z.B. Nachkommastellen) in Umfragezahlen an. [Q20]
Civey
Civey ist ein Berliner Umfrage-Start-up, das 2015 von Gerrit Richter (ehem. SPD-Bundestagskandidat) und Janina Mütze gegründet wurde. [Q21] Civey führt täglich Online-Befragungen durch und liefert Echtzeit-Ergebnisse. Medien wie Focus Online, Funke-Blätter und Spiegel Online nutzen seit 2017 Civey-Umfragen. [Q22] Civey betont, mit großen Internet-Panels repräsentative Meinungsbilder zu erzeugen und präsentiert seine Daten über Webseiten-Widgets.
Traditionelle Demoskopen kritisieren jedoch Civeys Verfahren als wissenschaftlich fragwürdig: Es gibt keine echte Zufallsstichprobe, die Panelteilnehmer melden sich freiwillig an. Mathematiker und Wahlforscher bezweifeln, dass damit objektive Repräsentativität gesichert werden kann. [Q23] Forschungsgruppe-Wahlen-Chef Matthias Jung warf Civey gar „Missbrauch des Begriffs repräsentativ“ und „Scharlatanerie“ vor. [Q24] Eine Beschwerde beim Presserat über die Bezeichnung „repräsentativ“ wurde dennoch abgewiesen. [Q25] In der Branche ist Civey wegen seiner unkonventionellen Methode umstritten.
Infratest dimap
Infratest dimap entstand 1996 durch den Zusammenschluss des Berliner Infratest-Instituts und des Bonner dimap-Instituts, nachdem beide den ARD-Auftrag für Wahlforschung erhielten. [Q26] Seitdem führt infratest dimap im Auftrag der ARD regelmäßig Wahl- und Stimmungsumfragen durch (u. a. das „ARD-DeutschlandTrend“-Reporting). Heute ist es eines der größten deutschen Meinungsforschungs-Institute. Zu seinen Kunden zählen ARD/Landesrundfunkanstalten sowie eine Reihe führender Zeitungen, Regierungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen. [Q27]
Parteipolitische Nähe wird Infratest dimap nicht nachgesagt. Die Methoden (Telefoninterviews, Omnibus-Umfragen, Online-Panels) entsprechen dem Branchenstandard. Etwaige Kritik bezieht sich vor allem auf technische Details (z.B. Gewichtungsverfahren), nicht auf inhaltliche Parteinähe. Insgesamt genießt infratest dimap einen etablierten Ruf, und beanstandete Ausreißer sind selten dokumentiert.
YouGov
YouGov ist ein internationales, börsennotiertes Meinungsforschungsunternehmen (UK) mit einer deutschen Tochtergesellschaft (YouGov Deutschland, Köln). Die Firma führt bevölkerungsrepräsentative Online-Umfragen durch, wobei sie ein eigenes großes Internet-Panel und statistische Gewichtung nutzt [Q28]. YouGov bietet neben Polit-Umfragen auch Markt- und Sozialforschung an. Weltweit basiert YouGov auf über 24 Millionen Panel-Teilnehmern, deren Antworten per Gewichtungsfaktoren an die Grundgesamtheit angepasst werden. [Q29]
Kritiker bemängeln, dass auch YouGov keine zufällige Auswahl verwendet. Wie bei Civey gilt in Fachkreisen: Freiwillige Online-Panels sind prinzipiell nicht so repräsentativ wie Zufallsstichproben. [Q30] So lag YouGov z.B. 2016 beim Brexit weit daneben. Gleichwohl wird YouGov von Medien und Politik oft zitiert. Es gilt als etablierter Anbieter, etwa beauftragt durch Parteien oder Ministerien (z.B. Corona-Umfragen), obwohl die Debatten um die Methodik anhalten. [Q31]